Übersicht
- Einleitung
- Die Krüppelgruppe in Bremen
- Grundlegende Forderungen
- Gründung der „Krüppelselbsthilfe e.V.“
- „Aktion autonom Leben“
- Eigene Wege
- Eröffnung der Beratungsstelle „Selbstbestimmt Leben“
- Die Beratungsstelle heute
Die Beratungsstelle Selbstbestimmt Leben Bremen – Beratung für behinderte Menschen und ihre Angehörigen – war die erste von inzwischen bundesweit mehr als 20 Beratungsstellen, die seit 1990 in der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL, www.isl-ev.de) zusammengeschlossen sind.
Die Krüppelgruppe in Bremen
Die Geschichte von Selbstbestimmt Leben Bremen ist untrennbar mit der deutschen Behindertenbewegung verbunden. Die Entstehung der Beratungsstelle geht zurück auf die Krüppelgruppe Bremen, bei der nicht nur die Namensgebung eine Provokation der nichtbehinderten Umwelt war: Nichtbehinderte Menschen waren von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Krüppelgruppen sollten ein Ort für behinderte Menschen sein, die sich selbst als „Krüppel“ begriffen, ein Ort, an dem sie sich über das, was ihr Leben als behinderter Mensch ausmachte mit anderen, denen es ähnlich erging, austauschen konnten. Auch sollte vermieden werden, dass nichtbehinderte die behinderten Teilnehmer:innen bevormundeten, wie es in „gemischten“ Gruppen oftmals vorkam.
Der Name „Krüppel“ war gewählt worden, weil man Behinderung als Unterdrückungsverhältnis zwischen Behinderten und Nichtbehinderten begriff: “Der Begriff Behinderung verschleiert für uns die wahren gesellschaftlichen Zustände, während der Name Krüppel die Distanz zwischen uns und den so genannten Nichtbehinderten klarer aufzeigt. Durch die Aussonderung in Heime, Sonderschulen oder Rehabilitationszentren werden wir möglichst unmündig und isoliert gehalten… Daraus geht hervor, dass wir nicht nur behindert, sondern systematisch zerstört werden.“ (1)
Die Krüppelgruppen galten als die radikalsten Gruppierungen der Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre entstehenden Behindertenbewegung in Westdeutschland. Einig war man sich jedoch in der Behindertenbewegung darüber, dass Behinderung kein Defizit oder tragisches Schicksal war, sondern durch die ausgrenzenden gesellschaftlichen Verhältnisse verursacht wurde. Die Veränderung dieser Verhältnisse war das Ziel der Behindertenbewegung.
Grundlegende Forderungen
Eingefordert wurde das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und die Präsenz behinderter Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Lebensbedingungen behinderter Menschen sollten in allen Lebensbereichen verbessert und Behindertenpolitik nicht länger nichtbehinderten Stellvertreter:innen überlassen werden. Zu den Forderungen gehörten die nach der Verbesserung der Wohnsituation behinderter Menschen, nach der Schaffung von Voraussetzungen für ein Leben außerhalb von Einrichtungen und der Verbesserung der Mobilität. In den Jahren 1980/81 waren die Mitglieder der Bremer Krüppelgruppe und ihre Sympatisant:innen damit beschäftigt, drohende Kürzungen beim Sonderfahrdienst für Behinderte abzuwenden, um damit wenigstens ein Minimum an Mobilität zu erhalten. Das spektakulärste Ereignis in diesem Zusammenhang war der erfolgreiche Hungerstreik in der Bürgerschaft im Januar 1981, der dazu führte, dass ein Bürgerschaftsbeschluss über die Kürzung des Fahrdienstes wieder zurückgenommen wurde.
Der Vorläufer – der Verein „Krüppelselbsthilfe e.V.“
1980 wurde von der Krüppelgruppe der Verein „Krüppelselbsthilfe e.V.“ gegründet, als Vereinsziele wurden in der Satzung die Unterstützung von Initiativen zur Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse behinderter Menschen sowie die Einrichtung eines Kontakt- und Beratungszentrums für Menschen mit Behinderungen formuliert. Das erste konkrete Projekt des jungen Vereines war die Initiierung des barrierefreien Umbaus eines Altbaus in der Bremer Innenstadt. Nach dem Umbau sollte das Haus Wohnmöglichkeiten für Mitglieder der Krüppelgruppe bieten und im Erdgeschoss sollte eine als Kommunikationsstätte gedachte Teestube eingerichtet werden. Diese wurde im Herbst 1983 eröffnet.
Die im Haus vorhandenen Wohnräume wurden nach ihrer Fertigstellung nicht mehr von den ursprünglich interessierten Mitgliedern der Gruppe bezogen, sondern von anderen behinderten Menschen, von denen einige aus Heimen kamen und Unterstützung beim Übergang in ihr Leben außerhalb der Einrichtung benötigten. Eigentlich sollte sich die Hilfe des Krüppelselbsthilfe e.V. auf eine reine „Starthilfe“ für die neuen Hausbewohner:innen beschränken. Sehr schnell wurde jedoch klar, dass es Problem- und Konfliktlagen gab, die die neuen Mieter:innen eigenständig nicht lösen konnten. So wurden die Vereinsmitglieder immer wieder auf aktive Unterstützung bei der Lösung zum Teil komplexer behinderungsbedingter Alltagsprobleme angesprochen. Diese zunehmend umfangreichere Hilfe konnte ehrenamtlich nicht im nötigen Umfang geleistet werden und so kam der Gedanke auf, sie zu professionalisieren.
„Aktion autonom Leben“
In dieser Situation bekam der Verein Kontakt mit der „Aktion Autonom Leben“. Ziel dieser Aktion war ein internationales Modellprojekt zum Aufbau und zur Verbreitung von „Centers for Independent Living“ in der BRD und Großbritannien. Die Idee zu diesem Modellprojekt war im Rahmen eines Kongresses im März 1982 in München von behinderten Menschen aus Deutschland, England, Schweden und den USA entwickelt worden. Centers for Independent Living gab es zum damaligen Zeitpunkt nur in den USA. Dort berieten behinderte Menschen als Expert:innen in eigener Sache andere behinderte Menschen. Sie gaben eigene Erfahrungen beim Aufbau eines selbstbestimmten Lebens weiter und unterstützten und begleiteten andere beim Aufbau eines solchen. Diese Beratungsmethode wird Peer-Counseling genannt.
In Bremen traf die Idee dieses Modellprojektes auf großes Interesse, denn dort wurde beschrieben, was man selbst schon länger aufbauen wollte. Im Rahmen des Modellprojektes schien endlich eine Finanzierung möglich. Gruppen aus fünf westdeutschen Städten zeigten Interesse an der Teilnahme, doch bereits bei den ersten Treffen zeichneten sich grundsätzliche Konflikte zwischen den Gruppen ab. Uneinigkeit bestand unter anderem hinsichtlich der Frage, wie stark beeinträchtigt man oder frau sein musste, um im Projekt mitarbeiten zu dürfen. Musste die-/derjenige auf Assistenz angewiesen sein oder reichte es, weniger stark beeinträchtigt zu sein? Sehr schnell wurde auch deutlich, dass das Projekt, vermutlich um schnelle Erfolge zu erzielen, vor allem auf behinderte Menschen abzielte, die durch Unfälle später im Leben behindert geworden waren, schon relativ klare Vorstellungen von ihrem zukünftigen Leben hatten und nur noch geringer Unterstützung bedurften. Diejenigen, „die noch nicht soweit waren“ – mit denen die Bremer:innen hauptsächlich zu tun hatten –, hätten nach diesem Konzept keine Hilfen erhalten.
Eigene Wege
1983 wurde Mitgliedern der teilnehmenden Gruppen die Teilnahme an einem Independent-Living-Kongress in St. Louis/USA finanziert. Dieser Aufenthalt löste widersprüchliche Gefühle aus. Zum einem beeindruckte, was die behinderten „Kolleg:innen“ in den USA aufgebaut und zum Teil erreicht hatten. Beeindruckend war auch das Modell der Persönlichen Assistenz, dass die Bremer:innen dort kennenlernten. Andererseits stellte sich die Frage, ob es sinnvoll sein konnte, ein Modell aus den USA mehr oder weniger unverändert auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Hinzu kamen Bedenken, ob der relativ kleine Verein für ein so groß angelegtes Projekt – jedes Einzelprojekt sollte ein Finanzvolumen von mehr als einer Million D-Mark haben – überhaupt eine tragfähige Basis hatte. Zusammen mit dem immer größer werdenden Unbehagen der Projektausrichtung auf spätbehinderte Menschen, die als Ausgrenzung anderer behinderter Menschen verstanden wurde, fiel schließlich Ende 1983 die Entscheidung, aus dem Projekt auszusteigen. Die Idee aber, einen Ort zu gestalten, wo man anderen behinderten Menschen Unterstützung beim Aufbau eines selbstbestimmten Lebens geben und gleichzeitig behindertenpolitisch aktiv sein konnte, wurde weiter verfolgt.
Doch sollte nun das Ziel mit den vor Ort verfügbaren Mitteln erreicht werden. Der erste Schritt auf diesem Weg war die Teilnahme an einer Arbeitsgruppe „Ambulante Hilfen für Behinderte“, die den aktuellen Stand diesbezüglich in Bremen erarbeiten sollte. Dabei wurde deutlich, dass die etablierten Organisationen vor allem den Bedürfnissen von behinderten Menschen mit hohem Assistenzbedarf nicht gerecht wurden. Auch wurde das Fehlen von Betroffenenberatung und Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches festgestellt, sowie ein großes Defizit im Hinblick auf sozialrechtliche Kenntnisse und Informationen, die für ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen oftmals benötigt werden.
Eröffnung der Beratungsstelle „Selbstbestimmt Leben“
Die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe bildeten die Grundlage für die Entwicklung eines eigenen Konzeptes für die Beratungsstelle „Selbstbestimmt Leben“. Hierfür wurde zunächst der Verein in „Selbstbestimmt Leben e.V.“ umbenannt. Der Name wurde in Anlehnung an die Independent Living Centers der USA und in Abgrenzung zum „Autonom Leben Projekt“ gewählt, denn autonom leben kann eigentlich niemand, aber Selbstbestimmung ist auch mit schwersten Beeinträchtigungen möglich, wenn die Bedingungen dafür geboten werden. Diese Bedingungen für behinderte Menschen zu schaffen bzw. sie bei der Schaffung dieser Bedingungen zu unterstützen, war Anliegen der geplanten Beratungsstelle. Auch Menschen mit großem Assistenzbedarf sollten ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von stationären Einrichtungen führen können – ohne Bevormundung, Abhängigkeit, Einschränkungen und Isolation.
Ziel der Beratungsarbeit von „Selbstbestimmt Leben“ sollte sein, durch Hilfeleistungen für Einzelne die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass behinderte Menschen selbstbestimmt leben sowie ihre Interessen selbst wahrnehmen und vertreten können. Gleichzeitig sollten die politischen Bedingungen für alle behinderten Menschen verbessert werden. Grundlage der Arbeit in der Beratungsstelle sollte das Peer-Counseling, die Betroffenenberatung, sein. Nach der Eröffnung der Beratungsstelle im November 1986 kristallisierten sich sehr schnell die folgenden Schwerpunkte in der Beratungsarbeit heraus: Beratung in sozialrechtlichen Fragen, Wohnberatung und Pflegeorganisation, wie die Organisation Persönlicher Assistenz damals noch genannt wurde.
Die Beratungsstelle heute
Diese Schwerpunkte spielen auch heute noch in der Arbeit von Selbstbestimmt Leben eine wichtige Rolle, wobei die Assistenzorganisation inzwischen von anderen Organisationen angeboten wird. Durchgeführt wurden die Beratungstätigkeiten sowie die politischen Aktivitäten im Laufe der Jahre von verschiedenen Mitarbeiter:innen in unterschiedlich großen Teams. Eine der Grundvoraussetzungen für die Einstellung neuer Mitarbeiter:innen war immer, dass sie selbst mit einer Beeinträchtigung leben, sich selbst als behindert bezeichnen. Die Veränderungen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik seit 1996 haben dazu geführt, dass Selbstbestimmt Leben z.Zt. (Mai 2025) nur noch eine Mitarbeiterin und einen Mitarbeiter auf Teilzeitstellen beschäftigen kann. Wichtig war uns immer, weibliche und männliche Berater:innen zu beschäftigen, damit insbesondere behinderte Frauen die Möglichkeit haben, sich von einer Frau beraten zu lassen.
In den vergangenen Jahrzehnten ist Selbstbestimmt Leben als Interessenvertretung behinderter Menschen eine feste Institution geworden, die aus Bremen nicht mehr wegzudenken ist. Selbstbestimmt Leben war Mitgründerin des Forums barrierefreies Bremen, das sich seit vielen Jahren dafür einsetzt, dass Bremen barrierefrei(er) wird. Das Projekt der barrierefreien gynäkologischen Ambulanz in Bremen wurde von Selbstbestimmt Leben mit initiiert und vorangetrieben. Auch an der Gründung unseres Dachverbandes, der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL e.V.) war Selbstbestimmt Leben Bremen e.V. beteiligt und kann hier als aktives Mitglied auch bundesweit behindertenpolitische Impulse geben. Seit 2018 bietet die Beratungsstelle auch „Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung“ nach dem Bundesteilhabegesetz an.
(1) Krüppelzeitung Nr. 2/80, 4